Vor vier Jahren erschütterte der arabische Frühling die verkrusteten Machtstrukturen des Nahen Ostens. Hunderttausende Menschen strömten auf die Straßen von Tunis bis Damaskus und begehrten gegen die korrupten und autoritären Regime in ihren Ländern auf.
Von Antje Schippmann
Während die Revolution in Tunesien über Umwege in eine Demokratie mündete, stürzten Länder wie Syrien und der Jemen in blutige Bürgerkriege, die bis heute andauern. In Syrien wurden mehr als 200.000 Menschen getötet, Millionen sind auf der Flucht.
Eine Region im Chaos – mit einem großen Gewinner?
Vor drei Monaten verkündete der iranische Parlamentsabgeordnete Ali Riza Zakani, ein enger Berater des „Obersten Führers" Ali Khamenei, mit Damaskus, Bagdad und Beirut seien drei arabische Hauptstädte „in die Hände Irans gefallen und nun Teil der iranischen islamischen Revolution". Die jemenitische Hauptstadt Sana'a werde „die vierte" sein.
► Experten warnen schon lange vor dem wachsenden Einfluss Teherans:
Der Iran kontrolliert und finanziert Milizen in Syrien, Libanon, Irak und Jemen und schürt die sektiererischen Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten, um seine Machtposition in der Region weiter auszubauen – während er sich gleichzeitig dem Westen gegenüber als Helfer und Partner im Kampf gegen ISIS andient. Der Iran als Brandstifter und Feuerwehr zugleich?
Den schnellen Vorstoß der ISIS-Terrormiliz im Irak und den Fall der zweitgrößten irakischen Stadt Mossul nutzte der Iran, um seinen Einfluss auf Bagdad weiter ausbauen: Teheran schickte sofort erfahrene Kommandeure und Waffen in das Nachbarland.
Der Irak gilt schon lange als Teherans „Hinterhof", und mit der militärischen Unterstützung im Kampf gegen ISIS wurde das Herr-Knecht-Verhältnis weiter ausgebaut.
Hochrangige iranische Generäle finanzieren und trainieren die schiitischen Milizen im Irak, wie die Kata'ib Hisbollah, die Badr Brigaden und Asa'ib Ahl al-Haq. Sie stehen unter direkter Kontrolle Teherans. Im Kampf gegen ISIS im Irak führen sie teilweise größere Operationen durch als die reguläre irakische Armee. In sunnitischen Dörfern verüben sie Gräueltaten, die denen von ISIS in nichts nachstehen. Selbst von Enthauptungen wird berichtet.
Mit den bewaffneten Milizen auf der Payroll Teherans wird der Iran auf lange Zeit nicht aus der Politik Bagdads wegzudenken sein.
Die Beziehungen zwischen Teheran und Damaskus sind seit der Islamischen Revolution 1979 eng und stabil. Der Iran steht fest auf Seiten des Diktators Bashar al-Assad, der seit vier Jahren sein Volk auf bestialische Weise ermordet. Iranische Revolutionsgarden trainieren, unterstützen und rüsten die syrische Armee und Assad-treue Milizen aus, und kommandieren sogar deren Kämpfer.
Syrien ist dem Iran aus geostrategischer Sicht sehr wichtig: zum einen für Waffenlieferungen an die Hisbollah, die zumeist über Syrien erfolgen, zum anderen als Brücke zur israelischen Grenze – und natürlich als wichtiger Verbündeter in der Region.
Ein Mann, der sowohl nach Syrien als auch in den Irak entsendet wurde, ist General Kassem Soleimani. Er ist der Anführer der berüchtigten Quds-Brigaden – der Eliteeinheit der iranischen Revolutionsgarden für Auslandseinsätze. Unter seiner Führung befreiten schiitische Milizen aus dem Irak mit iranischen Einheiten die von ISIS belagerte Stadt Amerli – ein weiterer militärischer Erfolg, mit dem der Iran sich als „Helfer in der Not" in Stellung bringen konnte.
Hisbollah als verlängerter Arm der Revolutionsgarden
Wie weit der Einfluss des Iran auch im Libanon gediehen ist, zeigt der jüngste Anschlag auf Israel: Am Mittwoch griffen Hisbollah-Kämpfer einen Militärkonvoi an und töteten zwei israelische Soldaten.
Der Angriff erfolgte mit kostspieligen russischen Kornet-Lenkraketen, die höchstwahrscheinlich von Teheran gesponsert wurden. Seit Donnerstag soll sich sogar Quds-Force-General Soleimani im Libanon aufhalten – ein klares Signal an Israel.
Mit iranischen Fajr-5-Raketen zielt die Hisbollah seit Jahren auf Tel Aviv und droht dem jüdischen Staat regelmäßig mit Vernichtung. Die Miliz gilt mit ihrem Raketenarsenal und ihren gut ausgebildeten Kämpfern als schlagkräftiger als die libanesische Armee. Auf Befehl des Iran kann die Miliz jederzeit losschlagen und verübt Anschläge im Ausland auf israelische Staatsbürger – wie in Argentinien oder Bulgarien.
Je mehr der syrische Bürgerkrieg in den Libanon überschwappt und auch dort die Spannungen zwischen Sunniten auf der einen und Schiiten, Christen und anderen Minderheiten auf der anderen Seite befördert, desto mehr kann sich der Iran auch im Libanon als Schutzmacht gegen ISIS gerieren und über die Hisbollah seinen Einfluss auf das gesamte Land weiter ausdehnen.
Ob es zur jetzt neuerlichen Eskalation der vom Iran unterstützten Hisbollah-Miliz mit Israel kommt?
Der amerikanische Terrorismus-Forscher und US-Regierungsberater Matthew Levitt (Washington Institute for Near East Policy) zu BILD: „Iran und Hisbollah wollen beide prinzipiell Israel angreifen. Aber zurzeit sind sie nicht daran interessiert, das Land derart gegen sich aufzubringen, dass die israelische Armee in Syrien gegen sie zurückschlägt, wo die Hisbollah auf Seiten Assads kämpft. Dieser Krieg ist ihnen zurzeit deutlich wichtiger. Ich erwarte eher weitere Anschläge der Hisbollah auf Israelis im Ausland, wie in den vergangenen Jahren. Erst kürzlich wurde wieder solch ein Attentat in Peru vereitelt."
US-Präsident Obama vollzieht seit 2009 eine Abkehr vom politischen Kurs seiner Vorgängerregierungen gegenüber Teheran.
Während der Proteste oppositioneller Iraner gegen die Präsidentschaftswahl zeigte sich Obama zögerlich. Das Regime schlug die Proteste daraufhin blutig nieder.
Seit 2009 soll er mindestens vier Briefe an das islamistische Regime geschrieben haben, in denen er Annäherung suchte. Der berühmteste gelang 2014 an die Öffentlichkeit: Hier versicherte Obama die gemeinsamen Interessen im Kampf gegen ISIS und sicherte zu, den syrischen Diktator Bashar al-Assad, Irans wichtigsten Verbündeten, nicht anzugreifen.
2013 bereits überschritt Assad die „Rote Linie" von US-Präsident Barack Obama – durch den Einsatz chemischer Waffen gegen die eigene Bevölkerung. Eigentlich ein Grund zum militärischen Eingreifen für die USA.
Doch nichts passierte. Assad sitzt heute fester im Sattel als damals.
Der italienische Politikwissenschaftler und Nahost-Experte Emanuele Ottolenghi zu BILD: „Es wirkt so, als würden die USA und ihre Anti-Terror-Allianz stillschweigend mit Assad gegen ISIS kooperieren."
Obamas Annäherung lasse vermuten, dass es nicht nur Entspannungspolitik, sondern sogar eine militärische Kooperation gebe, sagt Ottolenghi.
„Der Brief erweckt den Eindruck, dass Washington Teheran BRAUCHT, und das stärkt natürlich auch die Ausgangsposition des Iran bei den Nuklearverhandlungen."
Eine denkbar schlechte Ausgangsposition für die Atomverhandlungen: 2013 beschlossen die P5+1 (steht für: die UN-Vetomächte USA, Großbritannien, China, Frankreich und Russland plus Deutschland) eine Lockerung der Sanktionen.
Seitdem verschleppe der Iran die Verhandlungen, warnt Ottolenghi. „Wenn die EU und die USA nicht die Umsetzung der Sanktionen vorantreiben und nicht offensiv alle bestehenden Druckmittel anwenden, können die bestehenden Sanktionen scheitern und der Iran in den Besitz von Schlüsseltechnologie zur Urananreicherung kommen."
Es scheint, als setze Washington zunehmend mehr auf Teheran als auf den traditionellen Verbündeten Saudi-Arabien.
Riad und Teheran sind alte Gegenspieler um die Hegemonie in der Region: Der Iran geriert sich als Schutzmacht der Schiiten, und Saudi-Arabien, das Land der zwei heiligen Stätten Mekka und Medina, vertritt mit der wahhabitischen Lehre eine besonders strenge Interpretation des Sunna-Islam.
Nicht erst mit dem Tod von König Abdullah gerät das Haus Saud ins Wanken. Die Monarchie ist überaltert, der schiitische Gegenspieler an verschiedenen Brandherden der Region höchst aktiv beteiligt.
Der neue König und sein Thronfolger sind in Sorge über den Machtzuwachs des Iran, sagt David A. Weinberg. Der Saudi-Arabien-Experte forscht am US-Thinktank „Foundation for Defense of Democracies" und beriet unter anderem das US-Außenministerium.
„Die Saudis beobachten Irans aggressives Vorgehen am Golf und in der Levante mit starken Beklemmungen, und die jüngste Eroberung der jemenitischen Hauptstadt durch die vom Iran unterstützten Schiitenmilizen wird diesen Trend nur verstärken."
Auch die neue Nähe der USA zum Iran bereite ihnen Sorge – insbesondere, da die umstürzlerischen Aktivitäten der Revolutionsgarden in der Region bei den P5+1-Gesprächen unerwähnt bleiben: „Und Washingtons Nichteinmischungs-Politik in Syrien, wo Iran das Assad-Regime stützt, erhöht ebenfalls die Ängste der Saudis", so Weinberg weiter.
Sana'a als vierte arabische Hauptstadt unter Teherans Kontrolle?
Im Jemen stürmten Anfang des Jahres schiitische Houthi-Rebellen den Präsidentenpalast. Schon zuvor hatten sie Teile der Hauptstadt Sana'a unter ihre Kontrolle gebracht. Mit „Tod Amerika!" und „Tod den Juden!"-Rufen marschierten die Ansar-Allah-Milizen, der militärische Arm der Houthis, in die Hauptstadt ein.
Die jemenitische Regierung ist zusammengebrochen, der Präsident zurückgetreten, das Land steht führerlos da.
Der Iran bekennt sich offen zu seiner Unterstützung der Houthis. Auch die Hafenstadt al-Hudaida wird von den Houthis kontrolliert. Sie konzentrieren sich jetzt darauf, weitere strategisch relevante Orte an der Seestraße von Bab el-Mandeb einzunehmen, über die der Zugang zum Roten Meer kontrolliert werden kann – und somit auch der Schiffsverkehr Europas über den Suez-Kanal in den indischen Ozean. Drei Millionen Barrel Öl werden täglich über diese Route verschifft.
Durch die Förderung der Instabilität im „Hinterhof der Saudis" rückt der Iran dem großen Gegenspieler in Riad bedrohlich nahe. Ali Akbar Velayati, einflussreicher strategischer Berater des iranischen Revolutionsführers Khamenei, verglich schon stolz den Einfluss der Houthis im Jemen mit dem der Hisbollah im Libanon.
Der Iran profitiert von den Feuern, die er in der Region gelegt hat. Es ist eine altbewährte Strategie Teherans, Brandstifter und Feuerwehr zugleich zu sein.
Neu ist allein, dass die aktuelle US-Regierung die Rolle des Iran bei der Lösung regionaler Probleme überschätzt und seine Rolle bei der Verursachung der Brände herunterspielt.
„Die Annahme, dass der Feind (Iran) meines Feindes (ISIS) mein Freund ist, ist bestenfalls töricht. Der Westen scheint nicht zu verstehen, dass der Iran auch unter sogenannten „Reformern" oder „moderaten Führern" weiterhin untrennbar verbunden ist mit den Idealen seiner Revolution – und die regionale Ordnung umkrempeln will", so die Einschätzung Ottolenghis.
„Die Feindschaft des Iran gegen Israel und die USA sind ein Kernprinzip der iranischen Außenpolitik; ebenso die Rivalität mit Saudi-Arabien um die Führungsrolle in der islamischen Welt. Kein Stück „Realpolitik" kann diese Kernüberzeugungen ändern. Und das ist der Grund, warum der Iran – selbst wenn es einen Nukleardeal geben wird, und auch daran darf man zweifeln – den Interessen des Westens im Nahen Osten immer im Weg stehen wird."
Egal, ob es um eine Ende der Terrorfinanzierung, die Stabilisierung des Irak oder einen dauerhaften Frieden zwischen Israel und den Palästinenser geht – der Iran wird immer sein Bestes geben, um bei allen Projekten des Westens in Nahost im Weg zu stehen.
Nahost-Experte Ottolenghi: „Die USA liegen falsch, wenn sie denken, dass Assad ISIS vorzuziehen ist. ISIS und Assad – und Assads größter Sponsor, der Iran – sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Solange der Westen nicht begreift, dass die iranische Politik in der Region nicht konstruktiv ist, wird Teheran weiter von dem Chaos profitieren."